Nie genug

Die großen Themen der Weltgeschichte und die unzähligen kleinen Dramen im Leben vieler Einzelner lassen sich ohne Weiteres in zwei Worten zusammen fassen: Es ist einfach nie genug. Der Mensch kann ein ganzes Paradies zur freien Verfügung haben, voll gestopft mit Tieren, Blumen und leckeren Früchten. Er kann ohne Arbeit und Sorgen gemütlich seinen Tag verbringen – Eines wird ihn immer stören: Dieser eine Baum, dort in der Mitte, der nicht zu seinem Einflussbereich gehört. Und es ist völlig egal, welchen Namen man diesem Baum geben will. Die Konsequenz ist jedes Mal die Gleiche: Um das letzte Tröpfchen Macht und Besitz auszuschöpfen, riskiert der Mensch den Verlust all des Anderen, was er bereits hat.

Insbesondere gilt dieses Prinzip in Partnerbeziehungen. Man kann leicht die Probe aufs Exempel machen, indem man seinen Partner oder seine Partnerin mit den Worten konfrontiert: “Schatz, für dich würde ich fast alles auf dieser Welt geben”. Nur wenige, aufgeklärte Naturen werden auf diese – zugegeben recht großzügige – Liebeserklärung in Tränen ausbrechen, ein gerührtes “Danke” oder gar “Ich liebe dich auch” stammeln. Der Großteil wird stattdessen sofort zur Gegenfrage übergehen: “Ach ja, was denn nicht?” Und wehe demjenigen, der in diesem Moment anfängt, ehrlich Bilanz zu ziehen: “Tja… meine Arbeit, meine Freunde, den Kontakt zu meiner Familie, mein Land oder meine Sprache…” Plötzlich sieht es in der eigenen Beziehung düsterer aus als man je gedacht hat. Besser also, man stellt solche Fragen erst gar nicht. Und findet sich lieber damit ab, dass es, egal was man sagt, ohnehin nie genug wäre.

Der Sänger Konstantin Wecker hat dieser Erkenntnis sogar ein eigenes Lied gewidmet: “Genug ist nicht genug” singt er, “ich lass’ mich nicht belügen. Schon Schweigen ist Betrug; Genug kann nie genügen.” Den Adams und Evas aller Jahrhunderte hat er damit aus der Seele gesprochen. Macht und Besitzdenken gehören zur Natur des Menschen wie der aufrechte Gang und die Sprache. Das auszublenden oder abzustreiten führt regelmäßig in die Irre. Richtig ist aber: Der Mensch kann sich als einziges Lebewesen seines immerwährenden Strebens nach Macht und Besitz bewusst werden, um dann – mit Hilfe seines freien Willens – auch gegenteilige Entscheidungen zu treffen.

Christliche Theologie und Spiritualität kennt für dieses “nie genug” den Begriff der Erbsünde. Dahinter steckt, allen Religionskritikern zu Trotz, keine naturalistische Vorstellung aus vergangenen Jahrhunderten, sondern ein psychologisches Prinzip.