Klar – wir alle haben unsere Ideale. Wir haben meist eine klare Vorstellung davon, was wir gut und richtig finden, wie unser Leben im Grunde laufen soll, was dazu gehört und was nicht. Lügen finden wir doof, Stehlen sowieso, Fremd gehen ist direkt ein Trennungsgrund; Und überhaupt scheinen sich auf der Ebene der Ideale nur wenig Zwischentöne, aber dafür eine ganze Menge Schwarz-Weiss-Karikaturen zu finden. Wer ist der Gute, wer der Böse? Lässt sich doch meistens ganz leicht beantworten. Bis der ernüchternde Abstieg in die Grauzonen der Wirklichkeit beginnt.
Je mehr Dimensionen des Lebens ein Mensch kennenlernt, desto schwerer fällt ihm das, was der Apostel Paulus als Unterscheidung der Geister bezeichnet: Das Versagen eines Menschen von seinen Verdiensten zu trennen. Oder theologisch gefasst: Ihm seine Würde zu lassen, auch wenn er in Sünde gefallen ist. Paulus selbst kannte sehr gut die innere Wirklichkeit, die dazu führt, dass Menschen ihre Ideale verraten: „Das Gute, das ich will, tue ich nicht, aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ An solcher Selbsterkenntnis kommt niemand vorbei, der sich ernsthaft mit menschlichem Erleben und Verhalten auseinander setzen will.
Das entscheidende Stichwort in diesem Zusammenhang lautet: Ambiguitätstoleranz. Aushalten, dass es in jeder Gesellschaft, in jeder Gruppe – und auch in jedem Einzelnen – das unverbundene Nebeneinander von widersprüchlichen Idealen und Wirklichkeiten geben kann. Geben muss. Weil alles Andere in Ideologie und Konformismus endet. Dazu gehört auch, unbequeme Stimmen oder Personen nicht auszublenden und strafend zu ignorieren, sondern ihnen bewusst Gehör zu verschaffen in Prozessen der eigenen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung.