Einen anderen Menschen wegen seiner Gefühle zu verurteilen, ist nicht nur gemein und unfair – sondern auch völlig sinnlos. Denn Gefühle lassen sich nicht verändern. Sie lassen sich ignorieren, ausblenden, überspielen oder verstecken. Aber wenn sie erst einmal da sind, dann sind sie da. Der übergriffige Nachbar, den alle Anderen als hilfsbereit und engagiert darstellen; Die aggressiv wirkende junge Frau, die sich am Handy mit der Arbeitsvermittlerin vom Jobcenter streitet – und dabei gleichzeitig liebevoll über den Kopf ihres schlafenden Babys im Maxi-Cosi streichelt. Wir sehen von außen oft nicht einmal die Hälfte der jeweils anderen Person. Und wir sind komplett machtlos gegenüber den positiven oder negativen Gefühlen, die er oder sie gerade in uns auslöst.
Das Schlimmste, was man einem Kind beibringen kann, ist deshalb: seine Gefühle zu ignorieren. “Guck mal, wie nett der Onkel immer zu uns ist. Geh schön hin und sag ‘Guten Tag’” – “Asozial, hier im Bus so laut zu telefonieren. Und wo ist überhaupt der Vater von dem Kind? Diese Schlampe…” Kinder haben von Natur aus ein feines und zartes Gespür für das, was in einem anderen Menschen vorgeht. Sie müssen es haben. Denn davon hängt in den ersten Lebensmonaten ihr Überleben ab. Schade, dass ihnen das Meiste davon in den folgenden Jahren abtrainiert wird. Wir hätten mehr freundliche, gebildete und kultivierte Bürger in unserem Land, wenn diese positiven Eigenschaften – nämlich Einfühlung und Selbstwahrnehmung – gefördert, gelobt und wertgeschätzt würden.
Gefühle können grundsätzlich nicht falsch liegen. Sie können unangebracht sein, Konflikte hervor rufen, mit der momentanen Situation oder Konvention unvereinbar scheinen. Aber falsch sind sie trotzdem nie. Mancher Lehrer und manche Politikerin täten gut daran, die negativen Gefühle, die ihnen Tag für Tag entgegen schlagen, ernst zu nehmen und an sich zu arbeiten – anstatt über eine immer zügellosere Jugend und steigende Politikverdrossenheit zu klagen. Wer schlecht behandelt wird, der entwickelt negative Gefühle gegenüber denen, die ihn schlecht behandeln. Und das ist nicht etwa respektlos oder ungezogen – sondern ein Zeichen von gesundem Menschenverstand.