Ich konnte nicht anhalten. Leider. Obwohl es in Strömen geregnet hat, und du nur eine Jacke ohne Kapuze trugst. Obwohl diese Landstraße schnurgerade den Berg rauf führt, und du sicher noch mindestens fünfzehn Minuten Fußweg vor dir hattest bis zum nächsten Haus. Mein spontanes Mitgefühl hat gerufen: „Nimm das kleine Mädchen mit, die wird doch patschnass.“ Aber die vielen schlimmen Ereignisse der letzten Jahre, und diese vielen Präventionsschulungen, die darauf gefolgt sind, halt alles das, was man uns als professionellen Pädagogen so beigebracht hat, hat seine Wirkung nicht verfehlt.
Sorry, das war nichts gegen dich persönlich, weißt du. Aber du hättest dich gar nicht richtig verhalten können. Ich übrigens auch nicht. In einer ganz normalen Welt hätte ich sofort am Strassenrand angehalten, dich einsteigen lassen und in zwei Minuten wären wir oben bei eurem Haus gewesen. Ich hätte dich vor der Tür deiner Eltern abgesetzt, und deine Mutter hätte mir durchs Küchenfenster zugewinkt. Du wärst ausgestiegen mit einem Grinsen im Gesicht. Und dieser verdammte Regentag hätte für uns Beide irgendwie doch noch ein bisschen Sonne gehabt.
Aber in so einer Welt leben wir leider nicht. Du hast meinem Auto lange hinterher geschaut. Bestimmt war es nur Einbildung, aber ich meine, du hast ganz schön traurig geguckt. Trotzdem: Ich will dir nicht zeigen, dass Männer in Autos auf Landstraßen es manchmal gut meinen. Ich darf dir das nicht zeigen. Verstehst du? Und du darfst niemals einsteigen. Egal wie lang die Landstraße ist, und wie kalt der Wind. Vielleicht sagst du deiner Mama Bescheid, dass sie bei Regen nicht am Küchenfenster stehen und auf dich warten soll. Sondern lieber mit dem Auto ein Stück entgegen kommen.
Hey, eine Sache noch: Ich find diese perverse Welt genauso scheiße wie du. Also, nicht die ganze Welt, aber diesen Teil. Dass es Männer gibt, die böse Dinge mit kleinen Mädchen machen. Und die dadurch das Wichtigste zerstören, was es eigentlich gibt im Leben: Das Vertrauen. Die Liebe. Die Normalität. Kleines Mädchen mit der blauen Jacke, heute mittag um kurz vor eins an der Wittbräucker Landstraße. Wenn du das hier irgendwann mal lesen solltest, dann sollst du wissen: Das heute war zu deinem Besten. Aber ich werd nicht aufhören, für eine Welt zu kämpfen, in der sich das Beste irgendwann nicht mehr so beschissen anfühlt. Versprochen.