Kein Auge zudrücken

Den Slogan „Mit dem Zweiten sieht man besser“ bringen viele Menschen unmittelbar in Verbindung mit der Werbung eines bekannten Fernsehsenders. Mehr oder weniger prominente Darsteller werden da gezeigt, wie sie sich zunächst mit zwei Fingern das linke Auge zuhalten, um dann – nach Einspielung dieses Satzes – das Auge wieder zu öffnen. Werbung hin oder her – die Kernaussage werden die Meisten sicher bestätigen können: Es sieht sich mit zwei Augen deutlich besser als mit einem. Aus wissenschaftlicher Sicht wäre noch hinzuzufügen, dass überhaupt erst mit einem intakten zweiten Auge so wesentliche Prozesse wie Tiefenwahrnehmung oder räumliches Sehen möglich werden.

Eine der eindrücklichsten Wundererzählungen des Neuen Testaments handelt ebenfalls davon, wie Jesus einen blinden Mann am Strassenrand heilt. Interessant ist diese Erzählung deswegen, weil in ihr eine Frage überliefert wird, die den Leser beim ersten Hören stutzig machen kann: „Was willst du, das ich dir tun soll?“ fragt er. Und man ist spontan geneigt, darauf despektierlich zu reagieren: „Na was denkst du denn?“ Der Blinde seinerseits leistet sich diese Plattitüde nicht. Ihm ist es vermutlich viel zu ernst mit seinem Anliegen, und die Gefahr viel zu groß, seine vielleicht einmalige Chance auf Heilung zu verpassen. „Meister“, sagt er, „ich möchte wieder sehen können!“

Mit der ernst gemeinten Frage „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ und der ehrlichen Antwort darauf beginnt jeder Prozess der Heilung im Leben. Leider ist es oft genug so, dass wir den zweiten Schritt vor dem ersten machen, und anstatt die Frage des anderen abzuwarten, schon mit einer schnellen Antwort bei der Hand sind. Besonders verräterisch ist hier der Satz „Aber sieh es doch mal so…“ Demjenigen, der sich mit seiner eigenen Lösungsvariante, mit einer wie auch immer ausfallenden Antwort auf seine Lebensfrage mutig vorwagt, halten solche Formulierungen das noch geöffnete Auge zu.

Wir alle sehen die Welt nur aus unserer eigenen Perspektive. Wir kennen die Wege, die wir immer schon gegangen sind, trauen am Meisten dem, was uns in früheren Zeiten schon geholfen hat, und haben – in der Regel – die notwendigen Antworten auf unsere Fragen intuitiv griffbereit. Das Beste, was jemand daher tun kann, ist uns darin zu bestärken, unserer eigenen Wahrheit zu trauen. Zu wollen, was wir eigentlich wollen, und nicht was wir meinen, was gut wäre, zu glauben, zu denken oder zu sagen.