Eines Morgens wacht das Mädchen auf und hat einen wunderschönen Traum geträumt. Sie läuft die Treppe hinunter in die Küche und will von ihrem Traum erzählen. „Dafür ist jetzt keine Zeit“, sagt die Mutter, „lern lieber noch ein paar Vokabeln. Ich kann dich abhören, wenn du willst.“ Also lernt das Mädchen noch ein paar Vokabeln. Und der Erfolg gibt ihr Recht: In der nächsten Klausur schreibt sie eine Eins. „Gut gemacht“, sagt die Mutter.
Als der Frühling kommt, und die ersten Blumen draußen vorsichtig ihre Köpfe aus dem Boden strecken, würde das Mädchen am Liebsten den ganzen Tag nur barfuß herum laufen. „Dafür ist jetzt keine Zeit“, sagt die Mutter, „du musst Bewerbungen schreiben. Die Aufnahmefrist für die Universität geht bloß bis Ende März.“ Also schreibt das Mädchen Bewerbungen. Und der Erfolg gibt ihr Recht: Sie bekommt einen Studienplatz an einer der besten Universitäten des Landes. „Gut gemacht“, sagt die Mutter.
In der Stadt, wo die Universität ist, gibt es keine Wiesen und nur wenige Blumen. Das Mädchen lernt einen Kommilitonen kennen und verliebt sich in ihn. Der junge Mann studiert Kunst und Philosophie, und zeigt ihr, wie man mit wenigen Pinselstrichen etwas Schönes zu Papier bringen kann. „Dafür ist jetzt keine Zeit“, sagt die Mutter, „du musst deinen Abschluss machen und endlich ins Berufsleben starten.“ Also bewirbt sich das Mädchen auf gute Angebote. Und der Erfolg gibt ihr Recht: Schon bald kann sie in einem anerkannten Unternehmen, viele Kilometer entfernt von ihrem Studienort, eine leitende Position einnehmen. „Gut gemacht“, sagt die Mutter, „jetzt hast du für dein Leben ausgesorgt.“
Als sie zum ersten Mal die Tür des großen Klinikgebäudes durchschreitet, kommt ihr eine freundliche Krankenschwester entgegen. Sie bringt sie auf das Krankenzimmer und sagt: „Seien Sie ganz beruhigt. Wir werden alles tun, damit Sie sich bei uns wohl fühlen. Sie haben jetzt viel Zeit, sich erstmal nur um sich zu kümmern.“ In der Kunsttherapie ermuntert man sie, bunte Bilder und Zeichnungen zu malen. In der Ergotherapie soll sie ganz bewusst an Blumen riechen und die Erde berühren. Und in der Gesprächstherapie wird sie morgens gefragt: „Können Sie sich noch erinnern, wovon Sie in der letzten Nacht geträumt haben?“
Auf dem kleinen Tisch in ihrem Krankenzimmer liegt ein Hochglanzprospekt mit dem Leistungsangebot der Klinik. Es ist ein sehr anerkanntes Institut, mit hohen Qualitätsstandards und vielen nationalen und internationalen Auszeichnungen. Auf der Vorderseite des Prospekts prangt in großen Lettern der Satz: „Der Erfolg gibt uns Recht“.