Ich kann ihn nicht mehr hören. Diesen Satz „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst!“. Nicht, weil ich mich gegen das Gebot der Nächstenliebe stellen möchte. Das ganz gewiss nicht. Jesus hat im Evangelium nichts Anderes verkündet als Nächstenliebe, er hat sogar die Feindesliebe hochgepriesen, bis hin zu dem Punkt, im äußersten Fall sein eigenes Leben für die Freunde hinzugeben. „Liebe deinen Nächsten“ – das kann und will ich gerne unterschreiben.
Was mich an dem Satz stört, ist der zweite Teil: „… wie dich selbst“. Das hebräische Wort kamocha ist in dieser Übersetzung äußerst unglücklich wiedergegeben. Besser und sprachlich sinnvoller müsste es lauten: „Liebe deinen Nächsten – denn er ist wie du!“ Vielleicht war das viele Generationen lang kein Hindernis. Womöglich hat es den wohl genährten Bauern und Edelleuten vergangener Tage an der richtigen Stelle in das üppige Fleisch gestochen: So wie du dir gönnst und auflädst – so, wenigstens so, sollst du auch deinen Nächsten neben dir bedenken. Vergiss das nicht!
Aber heute ist es anders. Wir leben in einer Zeit, in der die Christen – zumindest viele fromme Gemeindechristen – eher unter einer Art Selbstakzeptanzschwund leiden: Erst die Anderen, dann ich. Jahrzehnte hat die kirchliche Seelsorge- und Verkündigungspraxis diesem Trend zur systematischen Selbstdiskriminierung massiv Vorschub geleistet. Um dann – im Gefolge fernöstlicher Meditationstechniken und neuerer psychologischer Erkenntnisse – plötzlich auf den völlig entgegen gesetzten Zug aufzuspringen.
Erst neulich habe ich sie wieder in einer Predigt gehört: diese absolut blödsinnige Aussage, ich müsse mich erstmal selber lieben und annehmen, wie ich bin, um dann auch andere wirklich lieben zu können. Diese Forderung ist unmoralisch, weil sie eine totale Überforderung darstellt. Niemand kann das: einen anderen Menschen genauso lieben wie sich selbst. Im Übrigen ist sie auch sachlich falsch. Auch wenn ich mir selbst gerade mal nicht in die Augen schauen mag, kann ich trotzdem meinem Nächsten etwas Gutes tun. Ihm einen Kaffee spendieren. Zuhören. Seine Sorgen teilen. Die Aufforderung zur Selbstliebe findet sich an keiner Stelle in der Bibel, schon gar nicht als Voraussetzung für echte und gelingende Nächstenliebe.
Der Hinweis, dass der andere genauso ist wie ich, weitet dagegen den Horizont. „Er ist wie du“ – das heißt: genauso schwach, genauso bedürftig nach Schutz und Anerkennung, auf die Liebe und Fürsorge eines Nächsten angewiesen. Das Wichtigste im Leben können wir uns gerade nicht selber geben. Erst in dieser Interpretation wird der eigentliche tiefe Sinngehalt des Gebots „Liebe deinen Nächsten“ deutlich.