Aufgebrochen

Bei einem Wochenendseminar sollte jede*r Teilnehmer*in seine derzeitige Lebenssituation in ein einziges Wort bringen. Auf meiner Karteikarte stand das Wort „Aufgebrochen“. Ich hatte nicht damit gerechnet, viele Rückmeldungen dazu zu bekommen. Umso mehr überraschten mich aber die Worte der anderen Kursteilnehmer*innen: Das höre sich nach Gewalt an, irgendwie „verletzt“ oder „beschädigt“ – und je länger ich zuhörte, desto mehr spürte ich, wie die Kommentare meiner Zuhörer*innen tatsächlich mehr oder weniger alle ins Schwarze trafen.

Ich war von meinem früheren Lebensort, aus meiner bisherigen Aufgabe aufgebrochen, los gegangen ins Ungewisse. Da war viel Schmerz dabei, Ungeklärtes, Unsicheres. Meine schützende Hülle war mir weg genommen worden, meine Rolle in der ich mich sicher fühlte, meine Position, in der ich glänzen und mich zeigen konnte. Es kam mir vor, als könne mir jeder direkt unter die Haut fühlen, und seinen Finger in mein offenes Fleisch legen.

An manchen Tagen tat jede noch so kleine Berührung mit der Vergangenheit weh. Wie es sich eben anfühlt, wenn etwas wieder aufbricht, was gerade anfing zu heilen. Wenn die Schutzschicht fortgerissen wird und die Wunden neu anfangen zu bluten. Ich habe an diesem Wochenende viel geweint – aber auch sehr viel gelernt. Heute, viele Monate später, hat das Wort „Aufgebrochen“ für mich wieder eine positivere Bedeutung gewonnen.

Ich bin stolz darauf, damals aufgebrochen zu sein. Mich den Stimmen in meinem Umfeld widersetzt zu haben, die mir einflüstern wollten: Du wirst es nie ohne uns schaffen. Du wirst es eines Tages bereuen und zurück kommen. Diese Narben sind längst nicht alle verheilt. Aber heute trage ich sie stolz, so wie einer, der einen großen Kampf gekämpft und dabei gesiegt hat. Ich bin ein Aufgebrochener, im besten Sinne des Wortes.

Heute, beim Laufen durch den morgendlichen Herbstnebel, kam mir ein Gedicht von Ernst Stadler (1883-1914) in den Sinn:

Ich bin ein durstig aufgerissen Ackerland.
In meiner nackten Scholle kreißt die Frucht. Der Regen
Geht drüber hin, Schauer des Frühlings, Sturm und Sonnenbrand,
Und unaufhaltsam reift ihr Schoß dem Licht entgegen.

Der Gedichtzyklus, in dem Stadler dieses Gedicht 1914, kurz vor seinem Tod, veröffentlicht hat, trägt übrigens den Titel: Der Aufbruch.