Erst die anderen, dann ich

Es ist leichter, unendlich viel leichter, sich um Andere zu kümmern, als das eigene Leben in Angriff zu nehmen. So lange es bei meinem Gegenüber noch irgendwas zu kümmern, zu besorgen oder zu erledigen gibt; So lange in der Familie oder im Freundeskreis ungelöste Probleme bestehen, bin ich dem Blick auf meine eigene graue Alltagsrealität glücklich enthoben. Ich darf mich in der tröstlichen Gewissheit wiegen, dass mein Einsatz für den Anderen heute und hier von allergrößter Wichtigkeit ist, und alles Weitere dahinter zurück stehen muss. Nur ein fürchterlicher Egoist würde seine Ausbildung oder sein berufliches Fortkommen voran treiben, während neben, vor und hinter ihm Menschen unter der Last ihrer Probleme zusammen brechen. Ein Schuft, der sich künstlerisch oder musikalisch verwirklicht, obwohl in seinem direkten sozialen Umfeld noch sooo viele schwierige Situationen existieren. Gut zu sein ist eine fantastische Methode, um den eigenen Blick systematisch von sich selbst weg auf Fremdes zu richten. Und dabei, neben der unmittelbaren psychischen Entlastung, auch noch mal eben den Charity-Bonus mit einzustreichen.

Ganze Lebensentwürfe können auf solcher Hinwendung zum Nächsten und Abkehr von den eigenen Bedürfnissen, aber auch Talenten und Entfaltungsmöglichkeiten beruhen. Entstehende Frustration oder Enttäuschung werden dabei als notwendiges Opfer, als zusätzlicher Liebesbeweis oder schicksalhaft zu ertragendes Los in das persönliche Zukunftskonzept mit eingebaut. Selbstverwirklichung wird schlicht und ergreifend delegiert – nämlich an die- oder denjenigen, denen über die eigene Entsagung doch gerade die Möglichkeit zu individueller Selbstentfaltung und Weiterentwicklung geboten werden soll. Nicht zu vergessen das erkenntnistheoretisch spannendste Moment bei dem Ganzen: Niemand zuvor hat ja den Anderen bzw. die Andere jemals so klar gesehen, so gut gekannt und seine Bedürfnisse so tief verstanden wie man selbst. Die originellste Wendung erfährt diese Fremdsicht noch darin, dass man ihm oder ihr quasi unterstellt, sich selbst gar nicht gut genug zu verstehen oder zu kennen, um zu wissen, was eigentlich das Richtige und Gute für ihn oder sie wäre.

Mein Tipp: Suchen Sie sich eine Partnerin oder einen Partner, der so viele eigene Probleme mitbringt, dass Ihre kleinen alltäglichen Sorgen und Aufgaben daneben plötzlich verschwindend gering und nebensächlich werden. Baden Sie in dem wunderschönen Gefühl, von ihr oder ihm gebraucht zu werden, unersetzlich zu sein – und ernten Sie täglich die Früchte ihres Einsatzes in Form von kleinen Liebesbezeugungen, Vertrauensbeweisen und eigens für sie kreierten neuen dramatischen Situationen, Ärgernissen im Alltag oder Schwierigkeiten, die es dann „gemeinsam“ zu lösen gilt. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie nach einigen Monaten oder Jahren plötzlich ausrangiert werden, und an ihre Stelle eine egoistische, selbstbezogene und nur auf Äusserlichkeiten bedachte Kontrastfigur tritt. Suhlen Sie sich eine gewisse Zeit im Schmerz über diese masslose Undankbarkeit, im Mitleid ob der negativen Entwicklung des Gegenübers, das doch mit Ihnen gerade auf einem so guten Weg zu sein schien – und dann suchen Sie ein neues Opfer, das Ihnen helfen kann, ihrer tief verwurzelten Lebensmaxime auch in Zukunft treu zu bleiben: „Erst die Anderen, dann ich!“