“Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er dann für sein Leben hält. Oder besser eine ganze Reihe von Geschichten.” (Max Frisch) War noch bis vor wenigen Jahren die Frage nach dem Beruf des Vaters oder der Mutter eine perfekt geeignete Einstiegsfrage für den Dialog mit einem Heranwachsenden, kann heute an dieser Stelle bereits der erste kommunikative Fallstrick lauern. Anstelle der klassischen Antworten “Bäcker”, “Tischler” oder “Arzt” kommt schon mal wie aus der Pistole geschossen eine Antwort wie “als Key Account Manager bei ABC Solutions” oder – bei etwas weniger zungenfertigen Charakteren – “der macht irgendwas mit Computer” raus.
Schon der Lebensumstand als solcher kann ja hin und wieder Probleme bereiten. Als mir zum ersten Mal die Gegenfrage “Welchen Vater meinen Sie?” gestellt wurde, habe ich zunächst geschluckt, aber dann doch interessiert der ausführlichen Schilderung des dreizehnjährigen Burschen zugehört, der mir die – etwas verwickelte – Lebens- und Beziehungsgeschichte seiner leiblichen (!) Mutter und seines “Erzeugers” darzulegen bemüht war. Nein, ganz so einfach wie vor hundert Jahren erzählt sich Lebensgeschichte im Jahr 2015 offenbar nicht mehr. Vielleicht ist es dadurch auch notwendiger geworden, sich – und sein Leben – zeitnah über soziale Medien mit anderen zu teilen. Möglichst bevor der aktuelle Status überholt ist und man zu neuen, weitläufigen Erklärungen ausholen muss.
Ich gebe offen zu: Was das angeht, bin ich absolut ein Kind der heutigen Zeit. Manchmal, wenn ich irgendwo eingeladen bin, wo mich noch nicht viele Leute kennen, fürchte ich mich geradezu vor der Frage: “Und, was machen Sie eigentlich so beruflich?” Kommt sie dann doch, versuche ich mich in mein Gegenüber hinein zu versetzen, und die Variante meiner derzeitigen Lebensgeschichte zu präsentieren, die mir am meisten kompatibel scheint. Wahlweise bin ich dann Diplom-Theologe (in Kirchenkreisen), arbeite seit vielen Jahren mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen (im Sozialen Bereich) und betreibe dazu eine Praxis für Einzel- und Paarberatung (allgemeine gesellschaftliche Belange). Aus meiner Innensicht macht diese Zusammenstellung absolut Sinn. Hin und wieder frage ich mich allerdings dann schon, ob mein jeweiliges Gegenüber das wohl genauso sehen würde.
Glücklich schätzen können sich nach meiner Einschätzung diejenigen, die es in ihrer Berufssparte so weit gebracht haben, dass sie keine weiteren Erklärungen mehr benötigen. Die so etwas sagen wie “Weinberger – vielleicht haben Sie schon mal vom Weinberger-Modell gehört?!” Bei denen dann alle begeistert nicken müssen. Die Einen, weil sie es wirklich kennen; Die Anderen, weil sie die Einen nicken sehen und nicht als Einzige dumm da stehen wollen. Es wäre allerdings ein Trugschluss zu denken, dass damit lebensgeschichtlich alle Klippen bereits umschifft wären. Auch Weinbergers haben ein Privatleben – und meiner Erfahrung nach rächt sich berufliche Bekanntheit durch invasive Fragestellungen aus dem privaten Kontext. Der dreizehnjährige Weinberger-Sohn kann ein Lied davon singen. Bleibt am Ende die Weisheit von Max Frisch. Und die Lust am Geschichten erfinden.