Mutter

Die Jüngste ist sie schon lange nicht mehr. Grau geworden scheint sie, ein bisschen vernachlässigt. Dabei war ihr das Äußere immer so wichtig. Vieles, was die jüngere Generation denkt oder tut, kann sie nicht ganz nachvollziehen. An manchen Tagen bleibt sie gern allein und kramt in alten Erinnerungen von früher. Damals – ja damals sind sie alle noch häufig gekommen. Fast jeden Sonntag. Schön war das. Irgendwie. Wenn die Familie sich um den großen Tisch versammelt hat.

Was sich geändert hat im Laufe der Jahre? Sie weiß es selbst nicht so genau. Sie ist sich treu geblieben, all die Jahre hindurch. Doch mit der Zeit wurde die Runde immer kleiner. Nicht einmal mehr an Weihnachten sind sie alle da. Klar – wenn irgendwo Not am Mann ist, erinnert sich der Eine oder Andere noch an sie. Eine Mutter bleibt immer Mutter. Und dann sind da ja auch noch die vielen Ehrenämter, mit denen sie vollauf beschäftigt ist. Nein, Langeweile ist nicht das Problem. Eher diese – seltsame Leere. Die dienstschuldigen Gesichter beim Erfüllen der Sonntagspflicht. Und nachher so schnell wie möglich nach Hause, endlich das Wochenende genießen.

Es ist uncharmant, einer Mutter ihre Runzeligkeit vorzuhalten. Ihre Macken und ihre Engstirnigkeit. Wer von ihr groß gezogen wurde, wen sie genährt und gestärkt hat für das Leben, der wird immer zu ihr halten. Vielleicht ganz behutsam das Eine oder Andere ansprechen – aber immer voller Liebe. Sie weiß ja selber, dass sie Fehler hat. Eine Mutter spürt das. Und gleichzeitig ist sie immer bemüht, für ihre Kinder nur das Beste zu geben. Eigentlich wünscht sie sich, dass sie alle zusammen bleiben. Dass es keinen Streit gibt untereinander. Und seufzt, wenn einige sich für etwas Besseres halten. Wenn sie nicht bereit sind, miteinander zu teilen. Sie will keine Institution sein, und muss es doch ständig irgendwie.

Ich gebe offen zu: Ich hänge an dieser alten Dame. Auch wenn sie sich manchmal seltsam verhält, schäme ich mich nicht dafür. Und am kommenden Sonntag – da werde ich ganz bestimmt da sein. Zusammen mit meinen Brüdern und Schwestern, die genauso denken wie ich. Um 11.00 Uhr. Beim Gottesdienst in unserer (Mutter) Kirche.